Pferdebeurteilung

mit Diana Krischke

1. März 2020,Eschbachhof, Koblenz (CH)

Die liebe Denise Spring von pro-pferd.ch organisierte einen tollen Seminartag mit Diana Krischke auf dem Eschbachhof in Koblenz zum Thema Exterieurbeurteilung von Pferden. Diana Krischke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Kassel und Kuratorin der Fürstlichen Hofreitschule Bückeburg. Sie ist anerkannte Zuchtrichterin für verschiedene Pferdezuchtverbände und Zuchtrichteranwärterin FN. Vor allem ist sie aber eins: Äusserst symphytisch, fachlich kompetent und hat eine trocken-humorvolle Art, Lerninhalte zu vermitteln.

Als die Ausschreibung rauskam, dauerte es keine 5 Minuten bis ich mich anmeldete – ein hochspannendes und wie ich finde sehr wichtiges Thema für alle Reiter und Pferdemenschen. Aber wieso beurteilen wir das Exterieur von Pferden, ist denn das überhaupt wichtig, wenn man nicht züchten will?

 

Ganz klar: JA! Bei der Beurteilung unserer Pferde geht es nicht darum, an ihnen herumzukritteln oder Fehlersuche zu betreiben. Aber es geht um eine objektive Bestandsaufnahme mit was für einem Fundament wir es überhaupt zu tun haben, denn wir können viele wichtige Informationen über die Gesundheit und Nutzbarkeit eines Pferdes durch genaues Betrachten seines Exterieurs gewinnen. Im besten Falle überlegen wir uns sogar schon vor dem Pferdekauf, was für ein Typ Pferd wir möchten, was sind meine Ansprüche / Ziele und Wünsche, was möchte ich mit dem Pferd machen? Mit einem Shetlandpony eine Springprüfung zu starten macht vermutlich genauso wenig Sinn wie mit einem Kaltblüter Distanzritte zu gehen. Es ist daher durchaus sinnvoll, sich im Vorhinein Gedanken über die Nutzung des Pferdes zu machen und sich zu überlegen, welche Stärken das Pferd für meine Vorstellungen haben sollte. Wenn wir ehrlich sind, ist das in der Realität zumeist nicht der Fall. Bestes Beispiel sind meine Ponys, die ganz sicher alles andere als von Natur aus leichtfüssige, wendige und ausbalancierte Reitkunstpferde sind. Wählt man sein Pferd nicht entsprechend seiner Anforderungen aus, muss man diese wohl fairerweise dem Pferd zu Liebe heruntersetzen. Es wäre jedenfalls nicht fair, dem Pferd seine Gebäudemängel als Unvermögen auszulegen und ihm diese jeden Tag vorzuhalten. Und egal wie scheinbar «tief» oder «hoch» unsere persönlichen Anforderungen liegen, das Pferd dazu muss passen. Selbst wenn ich ein Pferd nur aus dem Grund halte, um es zu betrachten und auf der Wiese anzusehen, muss es ebenfalls wenigstens eine Anforderung erfüllen, denn es muss für meine Augen mindestens «schön» sein, wenn ich mich daran erfreuen möchte.

 

Fakt ist wohl, dass die Facette der Pferde, die wir Freizeitreiter haben, endlos gross ist. Und nicht immer (okay, sagen wir…meistens) passen die Traumvorstellungen des Reiters mit den körperlichen Gegebenheiten des Pferdes zusammen. Deshalb ist es wichtig, sich anzuschauen, welche Schwierigkeiten unsere Pferde aufgrund ihrer Anatomie haben und wo allenfalls körperliche Defizite entstehen, die wir mit der Ausbildung ausgleichen sollten. Selbstverständlich kann man einen schief verwachsenen Knochen nicht geradebiegen aber meine Erfahrung zeigt, dass eben doch ganz viel möglich ist. Mit einer guten, physiologisch wertvollen Ausbildung kann man Schwächen von Pferden sehr wohl bearbeiten, ich würde sogar sagen man MUSS dies tun, denn das sind wir dem Pferd schuldig, sobald wir den Anspruch haben, auf seinen Rücken klettern zu wollen. Die Definition eines «guten» Pferdes ist also relativ und entsprechend seiner Einsatzmöglichkeiten zu bemessen.

 

Fakt ist jedoch auch, dass unsere Freizeitpferde viel leisten müssen. Die Ansprüche sind hoch, das muss man sich auch einmal bewusst machen.

Wie jetzt? Lieschen Meier möchte doch aber «nur» mit ihrem untrainierten, mopsigen Tinkerpony, dass 24 Stunden, 7 Tage die Woche auf einer fetten Weide steht am Wochenende 3 Stunden ins Gelände bummeln, ganz entspannt. Okay, das Pony ist etwas überbaut, hat einen leichten Senkrücken, ein bisschen Arthrose in den Vorderbeinen hat es auch schon aber sie hat ja auch keine grossen Ansprüche an das Tierchen.

Wirklich? Wenn man sich jetzt mal überlegt, was es für den Pferdekörper bedeutet, in diesem Zustand einen Reiter zu tragen, dann wird einem doch schnell bewusst, dass es ein Trugschluss ist zu denken: Je weniger man von dem Pferd verlangt, desto mehr Mängel darf es haben. Eigentlich ist sogar das Gegenteil der Fall, denn je unerfahrener und unreflektierter der Reiter, desto weniger ist er in der Lage, physiologische Mängel beim Pferd mit fortschreitender Arbeit auszugleichen und desto schneller wird das Pferd Schaden nehmen. So ist es in Wahrheit also so, dass Lieschen Meier das «bessere» Pferd benötigt, als ein Mensch, der sich eingehend mit der Biomechanik und fachgerechtem Training beschäftigt.

 

 

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«Je unerfahrener der Reiter, desto stabiler muss das Pferd sein, welches ihn (er)tragen soll.»

 

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Nun beschäftigten wir uns ja mit Reitkunst. Was braucht es da für ein Pferd? Das Ideal eines Reitkunstpferdes ist ein stabiles, kompaktes, gut ausbalanciertes und wendiges Pferd. Es ist nicht zu hochbeinig, damit sich sein Schwerpunkt immer in einem guten Verhältnis zum Boden befindet, seine Schultern sind schräg angeordnet und nicht bullig, damit es Bewegungen der Vorderbeine mühelos ausführen kann, das Vorderbein steht stabil unter der Schulter. Es hat einen starken, mittellangen Hals, der nicht zu tief angesetzt ist. Sein mittelmässig ausgeprägter Widerrist verläuft in einen in einen starken, gut bemuskelten Rücken über, der so kurz ist, dass er einen Reiter gut tragen kann aber doch so lang, dass ein Sattel problemlos Platz hat. Der Rippenkasten ist breit und deswegen deckt das Pferd trotz seiner eher kleinen bis mittleren Grösse problemlos einen Erwachsenen ab. Die Anbindung zwischen einer mässig steilen Kruppe und der stabilen Lende ist gut ausgeprägt und lässt die Hinterhand insgesamt rund wirken. Diese selbst hat eine gute Winkelung (idealerweise gleichsam des Schulterwinkels) und steht nicht «hintenraus», um die Tragkraft effizient nutzen zu können aber auch elastische Vorwärtsbewegungen fallen dem Pferd nicht schwer. Hier steckt auch seine Stärke: Es kann problemlos schnelle Wendungen auf der Hinterhand absolvieren und stabilisiert sich ausbalanciert von hinten, sodass es sich sehr leichtfüssig und vor allem leise bewegt. Sein physiologischer Schwerpunkt stimmt mit dem des Reitersitzes möglichst überein. Dieses Pferd hat kompakte, gesunde Hufe und ist muskulär gut bepackt, es hat nirgendwo Dellen oder Löcher und wirkt im Gesamteindruck «rund und gesund». Die Beine sind robust, mit stabilen Karpalgelenken und gut gebauten Röhren. Sie stehen statisch gut und ausgewogen (nicht zu schmal oder zu breit) unter dem Körper und haben keine Auffälligkeiten wie Gallen, Überbeine, extreme Schiefstellungen usw. Wenn es dann noch einen hübschen Kopf und eine nette Farbe (je nach Geschmack) hat, ist man eigentlich wunschlos glücklich. Soweit die Theorie. Seien wir ehrlich… die Realität sieht bei den allermeisten von uns anders aus ;)

 

Der Berber Raisulih vereint für mich ziemlich viele Aspekte eines guten Reitkunstpferdes (Bildnutzung mit freundlicher Genehmigung der Fürstlichen Hofreitschule Bückeburg www.hofreitschule.de)
Der Berber Raisulih vereint für mich ziemlich viele Aspekte eines guten Reitkunstpferdes (Bildnutzung mit freundlicher Genehmigung der Fürstlichen Hofreitschule Bückeburg www.hofreitschule.de)

Back to reality…

Bevor ich mir einen detaillierteren Überblick über ein bestimmtes Pferd verschaffe, schaue ich es mir am liebsten in seiner selbst bevorzugten Haltung und unbeeinflusst vom Mensch an. Wie ist der erste Eindruck? Ist es aufmerksam, schläfrig, gestresst? Wie wirken die Augen, das Fell und der Futterzustand? Was fällt mir als Allererstes auf?

Danach schaue ich mir das Pferd von der Seite genauer an und beurteile die Anordnung der Gliedmassen und Winkel.

 

Ich habe nachfolgend mal meine Ponys analysiert und die wichtigsten statischen Winkel eingezeichnet:

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Zuerst schaue ich mir an, ob ich ein Rechteck- oder ein Quadratpferd habe (gelbe Markierung). Hier beeinflusst die Mittelpartie und die Beinlänge massgeblich die Statik. Ein ausgeglichenes Quadratpferd ist eher stabiler als ein Rechteckpferd. Das Quadrat sollte jedoch nicht zum Hochrechteck werden, da das Pferd so sehr schnell ins Schwanken gerät. Es lohnt sich, hier wirklich auch mal an einem Bild effektiv nachzumessen, oftmals ist der erste Eindruck nicht ganz eindeutig. Bei Stern sieht man, dass er etwas mehr im Quadrat steht als Reginn. Oft hilft es auch, das Pferd in drei Teile aufzuteilen (Vorhand, Mittelhand und Hinterhand) und sich anzuschauen, ob die Teile ausgeglichen sind, ein Teil länger oder kürzer ist.

 

Danach schaue ich mir an, wie die Schulter (dunkelpink) und Hinterhand (lila) gewinkelt sind und wie diese Winkel zueinander stehen, d.h. ob Schulter- und Hinterhand harmonisch sind. Ideal wäre, wenn die Winkel annähernd gleich wären, am besten 90° oder etwas mehr. Stern und Reginn haben eine eigentlich sehr nette Schulterwinkelung, beide Pferde haben jedoch eine sehr massige Schulterpartie mit weit in den Körper reichendem Schulterblatt. Das kann ein Besatteln schwierig machen und lässt das Pferd bullig wirken. Man sieht bei beiden, dass die Winkel zwischen Schulter und Hinterhand nicht ganz harmonisch sind, die Hinterhand ist jeweils etwas steiler als die Schulter.

 

Von der Schulter aus, schaue ich mir die Halsbasis an. Wo setzt diese an? Dafür denke ich mir eine Linie vom Widerrist bis zu Gurtlage (grün) und nehme davon die Mitte. Setzt der Halsansatz genau dort oder etwas darüber an ist er gut angesetzt, deutlich darüber ist er hoch und darunter tief angesetzt. Je tiefer der Halsansatz in Verbindung mit einem kurzen Hals, desto mehr wird das Pferd dazu neigen, vornüber zu kippen und vorhandlastig zu laufen. Pferde mit hochangesetzen Hälsen neigen dagegen dazu, eine Aufrichtung vorzugaukeln und dabei den Rücken wegzudrücken. Man sieht bei beiden Pferden, dass sie einen ziemlich tiefen Halsansatz haben, wobei der Ansatz von Stern noch näher am Balancepunkt liegt als der von Reginn. Auch die Ganaschenfreiheit (dunkelgrün) schaue ich mir an, Stern hat hier eindeutig mehr Platz (ca. 2 Finger) als Reginn, bei dem gerade so ein Finger Platz hat (sieht man auf dem Bild nicht so gut, habe es aber nachgefühlt). Bei Stern sieht man eine leichte Tendenz zu einem Axthieb (Einkerbung vor dem Widerrist), der aber gut mit Muskulatur gefüllt ist und so nicht sehr auffällt.

 

Vom Genick ausgehend sehe ich mir die Oberlinie des Pferdes an: Ist sie gut ausgebildet, gibt es einen Axthieb, Dellen, sonstige Auffälligkeiten? Wie ist der Rücken konzipiert, wirkt er stabil, gerade, durchhängend? Steht der Widerrist sehr heraus oder ist er gut eingebettet in die Muskulatur des Rumpfes? Betrachtet man beide Pferde sieht man prinzipiell eine erstmal harmonische Oberlinie. Man erkennt gut, dass Stern den stabiler wirkenden Rücken hat, Reginn dagegen eine Tendenz zu einem durchhängenden Rücken, der nach dem Widerrist abfällt. Ich schaue mir dann an wo der Schwerpunkt des Reiters/Sattel zum liegen kommt (roter Strich) und vergleiche diesen mit dem statischen Schwerpunkt des Pferdes, welcher sich aus den weitergezogenen Linien der Vor- und Hinterhand ergibt. Dort, wo diese beiden Linien (dunkelpink und lila) sich kreuzen, ziehe ich eine lotrechte Linie zum Boden. Wir sehen: Beide Pferde haben ihren statischen Schwerpunkt weiter vorne als der Reiter sitzen würde. Das würde ich mir selbstverständlich anders wünschen. Weiter kann man sich eine Linie vom Hüfthöcker zur dicksten Stelle des Halses ziehen (blau gestrichelt), welche bei beiden nochmals die Vorhandtendenz nochmals unterstreichen.

 

Weiter schauen wir uns die Hinterhand genauer an: Wie ist die Lende gestaltet? Ist sie lang, kurz, steil oder flach? Wie ist sie an die Kruppe angebunden, gibt es Kanten oder Hügel? Bei Stern ist auffällig, dass die Lende kurz ist und sehr seil zur Kruppe zuläuft, wodurch die Anbindung etwas im Winkel gebrochen wirkt. Reginn hingegen hat eher eine lange Lendenpartie, die aber gut und harmonisch in die Kruppe übergeht. Ich möchte bei ihm noch auf die Partie vor der Lende kurz eingehen, die eindeutig seine Schwachstelle ist. Es fällt ihm sehr schwer, sich hier reell anzuheben, da die lange Lende hier auf den eher schwachen Rücken trifft. Die Kruppenpartie insgesamt ist bei beiden schön rund bemuskelt. Stern hat eine ziemlich abgeschlagene Kruppe und einen recht tiefen Schweifansatz, was sich auch in seinen von Natur aus wenig raumgreifenden Hinterbeinen äussert. Reginn hat eine nicht ganz so steile dafür aber längere Kruppe. Beide Pferde sind nicht überbaut (auch wenn das zuerst durchaus so wirken kann), wie man an der horizontalen gelben Linie sehen kann.

 

Im Seitenbild schauen wir uns dann noch die Statik und Beschaffenheit der Beine an. Wie ist das Verhältnis von Unterarm zum Röhrbein? Wie sind die Gelenke beschaffen, wirken sie stabil oder zerbrechlich? Stehen die Beine gut unter der Schulter bzw. unter dem Sitzbeinknochen? Sind sie regelmässig oder allenfalls rück- bzw. vorbiegig? Sieht man Sehnen, Adern, andere Auffälligkeiten wie Gallen o.ä.? Wie nah liegt der Ellenborgen am Rumpf?

Bei beiden kann man ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Unterarm und Röhrbein am Vorderbein erkennen (orangene und rote Markierungen), der Unterarm ist jeweils etwas länger als das Röhrbein, was mir in diesem Verhältnis lieber ist als andersherum. Sterns Vorderbeine tendieren immer etwas dazu, leicht rückständig zu stehen. Das kann bei einem rumpfigen Pferd aber durchaus normal sein (es kann aber durchaus auch auf eine unphysiologische Hufstellung hindeuten). Im Vergleich dazu sieht man bei Reginn das Vorderbein besser unter der Schulter stehen. Beide Pferde haben grosse Gelenke und auch stabile Röhrbeine. Schaut man sich die Fesselung an, hat Stern mit seiner kurzen, kräftigen Fesselpartie eindeutig die langlebigere Variante als Reginn mit seinen langen Fesseln, die anfälliger für Überbelastungen sind aber seine Gänge für den Reiter bequemer zu sitzen machen. Sterns Fesseln sind dafür weniger stossdämpfend und dadurch auch für den Reiter «unbequemer». Schauen wir noch auf die Hinterbeine: Stern neigt dazu, die Hinterbeine ein wenig hintenraus zu stellen (siehe hintere gelbe Linie). Reginn steht dagegen mit seinen Hinterbeinen schön unter dem Sitzbeinknochen. Die leichte säbelbeinige Stellung der Hinterbeine ist bei Gebirgspferden relativ häufig anzutreffen und in der geringen Ausprägung kaum relevant. Die Hufachse ist bei beiden Pferden gemäss ihrer Anatomie ausgeglichen, Reginn dürfte zwar ein ganz klein wenig flacher stehen in Verbindung mit seinen langen Fesseln und seinem etwas fortgeschrittenen Alter ist die leicht steile Stellung jedoch zu tolerieren (die Beurteilung der Hufe ist ein spannendes Thema an sich und würde ich diese in jedem Fall einem kompetenten Fachmann überlassen oder die Analyse zusammen durchführen).

 

Soweit zur seitlichen Beurteilung. Wir möchten aber gerne auch noch die Pferde von vorne und hinten beurteilen. Hier schauen wir uns vor allem die Statik der Extremitäten nochmals genauer an. Das wird interessant ;)

 

Fangen wir bei Reginn an

 

Zur Vorhand

Die Brust ist mittelbreit angelegt, das Buggelenk ist gerade und sackt nicht auf einer Seite mehr ab (orangener Strich). Sowohl die Schulter als auch der Unterarm sind gut mit jeweils einem Muskelpaket bepackt (gründe Kreise). Der Unterarm bis zum Karpalgelenk verläuft sehr schön gerade, ab dem Fesselgelenk steht er etwas nach aussen gedreht (bodeneng, leicht zehenweit). Allgemein fällt auf, dass er für seine Schulterbreite sehr schmal über dem Boden steht. Die Hufe haben keine stark hebelnden Wände. Der Kronrand drückt jedoch auf beiden Wänden etwas nach oben. Das rechte Vorderbein steht leicht vermehr unter dem Körper und hat auch die deutlich gebrochenere Achse, was sich im ebenfalls Karpalgelenk äussert (blauer Kreis), was aber auch an der in diesem Moment gewählten Belastungssituation liegen kann (er steht hier gerade vermehrt auf dem rechten als auf dem linken Bein).

 

Zur Hinterhand

Als erstes fällt an der Hinterhand die kuhessig, x-ige Stellung der Beine auf. Die Beine stehen sehr eng zusammen und geben dem Körper nur wenig Stabilität. Das macht die Sprunggelenke anfällig für allfällige Erkrankungen wie Spat oder Arthrose. Die Sprunggelenke sind ausreichend gross und führen sich in geraden Röhrbeinen fort. Die Kruppe und das Becken sind gerade, einen ganz leichten Rechtshang gibt es aufgrund der natürlichen Schiefe. Insgesamt ist die Hinterhand gut bemuskelt, ich würde mir allerdings noch ein bisschen mehr Fülle wünschen. Aufgrund der aktuell winterlich bedingten Trainingsbedingungen sei das aber verziehen ;) Die Zehenrichtung weist gerade nach vorne.

 

 

Schauen wir uns Stern genauer an...

Zur Vorhand

Die Brust ist breit und erscheint sehr massiv. Sie ist sehr gut bemuskelt. Sein Brustbein ist gut verpackt und steht nicht heraus. Das Buggelenk hängt minimalst zur hohlen Seite hin (gemessen 1 °), weswegen auch das linke Vorderbein etwas mehr unter der Schulter steht. Die Beine sind sehr robust und die Gelenke gross. Es fällt auf, dass die Karpalgelenke aufgrund der Statik der Beine (leicht x-beinig) etwas zu sehr nach innen drücken. Es kann also gut sein, dass sich hier Kräfte ungünstig bündeln. Das Röhrbein ist gerade und läuft in eine gut balancierte Hufkapsel. Es gibt minimale Hochstände an der Aussenseite des Kronrandes.

 

Zur Hinterhand

Die Hinterhand ist relativ unauffällig. Das linke Bein stellt er gerade etwas mehr unter den Körper, weswegen es in diesem Moment auch etwas schräg steht, das rechte stabilisiert. Prinzipiell stehen die Knochen aber gerade im System. Die Kruppe und das Becken sind gerade. Die Kruppe hat ausserdem die Tendenz zu einem «Herzhintern», d.h. dass sie gespalten ist. Das ist ein typisches Anzeichen für ein Zugpferd, da sie viele Ansätze für starke Muskulatur bietet.

 

 

Abzuwägen ist auch immer, welche Unregelmässigkeiten der natürlichen Schiefe zuzuschreiben sind und welche tatsächlich im Fundament begründet liegen.

 

Nach der optischen Beurteilung im Stand würde jetzt die Bewegungsanalyse (Pflasterprobe und Freilauf) folgen. Ich werde das an dieser Stelle nur kurz anschneiden, damit es nicht noch länger wird. Ich schaue mir das Pferd von vorne, von hinten und von der Seite im Schritt und Trab an. Wie bewegt es sich? Sind die Bewegungen elastisch, steif, gehen sie durch den Körper? Fusst es gleichmässig oder tritt ein Bein kürzer als ein anderes, behält es den Takt, wie ist der Raumgriff? Wie setzt es seine Hufe auf? Gibt es auffällige Überbelastungen (zB Drehen in den Gelenken, Instabilitäten)? Schwingt die Hüfte gleichmässig, rotiert der Brustkorb entsprechend der Bewegungen?

 

Danach lasse ich das Pferd frei laufen. Zeigt es saubere Grundgangarten? Läuft es von alleine willig und losgelöst? Gibt es Schwebephasen? Wie setzt das Pferd seine Hinterhand ein? Wenn ich es mit einem Gangpferd zu tun habe, welche Gangart wählt es von sich aus; ist es eher lateral oder diagonal veranlagt? Ist es allenfalls steif, überbeweglich oder sogar hypermobil?

 

Okay, das war jetzt erstmal ziemlich viel. Wer bis hier hin gelesen und noch dabei ist… wow. Aber wir sind noch nicht am Ende! :D

 

Und was bedeutet denn das jetzt eigentlich alles und was heisst es für die Arbeit?

 

Meine beiden Pferde sind eigentlich nicht sooo unterschiedlich gebaut, was mich tatsächlich nach dem Einzeichnen der effektiven Winkel selber etwas überrascht hat. Beide haben massive Schultern, tiefe Halsansätze von Natur aus eine sehr vorhandlastige Balance, etwas krumme Beine (bodeneng). Ihre Stärken liegen sicher eher in der versammelnden Arbeit als in schnellen, langen Sprints. Stern wäre auch für die Zugarbeit sehr gut geeignet (zB Holzrücken) aufgrund seiner starken, gewinkelten Hinterhand mit abgeschlagener Kruppe, der massiven Schulter mit dem kurzen Rücken. Prinzipiell sind beide mit Bedacht ganz brauchbare Reitpferde (im Sinne der Reitkunst), wenn man sie nicht «über die Uhr» reitet. Aufpassen muss man jeweils mit tiefer Dehnungshaltung, mit welcher die Vorhand ziemlich sicher recht schnell verschleissen würde. Auch muss ich aufgrund der sehr spitz gewinkelten Hinterhand mein Augenmerk auf einen guten Vorgriff und Fleiss der Hinterbeine legen, sodass die Arbeit nicht zu statisch wird, wodurch die Beine steif werden und kurztreten. Aufgrund der beiderseits eher problematischen Lendenregion (Stern durch die schlechte Anbindung an die Kruppe und Reginn durch die Länge der Lende) muss ich an dieser Stelle ebenfalls auf eine korrekte Kraftübertragung achten. Aufgrund des kurzen Rückens fällt es Stern sehr schwer, dort loszulassen und Schwung von hinten nach vorne zu übertragen. Reginns Rücken braucht sicherlich noch etwas mehr Aufmerksamkeit als der von Stern, da er durch die verhältnismässig lange Mittelpartie zum Durchhängen neigt. Er sollte lernen, sich von hinten gut zu Stabilisieren und diese Partie reell zu heben statt den ganzen Brustkorb hängen zu lassen. Ansonsten beängstigen mich persönlich die statisch etwas auffälligen Hinterbeine von Reginn nicht zu sehr. Kein Pferd ist gänzlich gerade, genauso wenig wie wir Menschen. Dennoch habe ich das alles im Hinterkopf.

 

Nun noch eine kurze Ausführung zu den Dingen, die wir bearbeiten können. Schiefstellungen und Knochenverwachsungen können wir selbstverständlich nicht verändern. Wohl aber kann man durch sachgemässe Ausbildung und detailreiche Arbeit Muskulatur umarbeiten, dem Pferd ein neues Körpergefühl vermitteln und damit bestimmte Bereiche der Statik durch Balanceverschiebungen sogar verändern. Es ist beispielsweise durchaus möglich, ein Pferd mit einer Diagnose «Kissing Spines» durch Aufbau von stabilisierender Muskulatur schmerzfrei zu bekommen. Oder die Vorhand eines Pferdes mit bspw. Hufrollensyndrom so weit zu entlasten, dass diese Diagnose kaum mehr auffällt. Ich habe schon erlebt, dass diffuse Lahmheiten in einer fehlenden Balance begründeten lagen und diese innerhalb weniger Minuten durch physiologisch korrekte Arbeitsweise verschwanden. Das sind nur wenige Beispiele von dem was möglich ist, ich kann jedenfalls sagen, dass tatsächlich SEHR VIEL möglich ist, wenn der Fokus auf die richtigen Dinge gelegt wird. Was sich aber in jedem Fall immer verbessern sollte sind die Grundgangarten und die Balance des Pferdes. Werden diese hingegen schlechter, ist die kritische Hinterfragung der Arbeit angebracht.

 

Hier mal ein Beispiel wie sich Reginns Schwachstelle «Rücken» im Laufe der Zeit verändert hat (zwischen dem ersten und dem letzten Foto liegen fast 2 Jahre Arbeit). Abgesehen davon hat er massiv an Balance gewonnen, hat Gefühl für seine Hinterhand bekommen und schafft es seinen Brustkorb immer mehr zu anzuheben. Seine Überbeweglichkeit hat sich sehr schön stabilisiert und er hat durch das neue Körpergefühl ungemein an Selbstvertrauen gewonnen.

Für die Neugierigen von euch habe ich hier auch noch ein Bild von Stern als 2-jähriger. Ihr könnt selber mal schauen, was sich alles verändert hat (ausser mehr Speck und Masse).

 

 

Interessiert euch das Thema noch weiter? Ich kann euch zum Weiterlesen gerne diese beiden Bücher empfehlen:

 

  • Christine HLAUSCHECK, Steile Schuler, kurzer Rücken und Co., ISBN 978-3-88542-777-3
  • Christian SCHACHT, Reitpferde richtig beurteilen, Potentiale erkenne, Talente fördern, ISBN 3440119890

 

Zum Abschluss habe ich für euch noch ein Bild von Finja, die ihr gerne selber mal analysieren dürft. Eins verrate ich euch: Sie ist nicht nur aufgrund ihrer geringen Grösse nicht unbedingt als Reitpony geeignet ;) Ihre Stärke liegt ganz woanders und da darf sie ihr Potential auch voll entfalten :-D

 

Ganz zum Schluss möchte ich noch eines loswerden, weil mir das sehr wichtig ist: Egal wie gross augenscheinliche «Mängel» eurer Pferde auch sein mögen, glaubt an sie und vermittelt positive Bilder! Denn nur so können sie über sich hinauswachsen. Ein motivierter Geist kann über so manche (auch gröbere) körperliche Schwäche hinweghelfen!

 

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«Die Reitkunst verfügt über die Mittel, um schlecht gebaute Pferde zu unterstützen, indem sie das Gewicht, welches die schwachen Körperteile überfordert, auf die starken Teile überträgt. Der Bereiter, welche diese Pferde als seiner Aufmerksamkeit unwürdig betrachten würde, hätte die Reitkunst nur teilweise begriffen.»

François Baucher

 

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